Schicksalhafte Begegnung

Ich sitze im Zug auf dem Weg zu meiner Schwester. Die letzten Tage waren anstrengend und ich hätte nicht gedacht, dass ich noch die Zeit finden würde, um zu ihr zu reisen. Es schneit schon seit Stunden und inzwischen sieht die Landschaft, die an dem verschmierten Zugfenster vorbeihuscht, aus wie in einem Märchen. Alles so schön weiss und friedlich. Ich denke an meine Kindheit, als wir Kinder immer aus diesem schönen Schnee, zusammen mit Papa, einen Schneemann gebaut haben. Schöne Erinnerungen an meinen Vater. Und nun, bei dem jährlichen Familientreffen bei meiner Schwester, wird er nicht mehr dabei sein.
Immer mehr Leute steigen in mein Zugabteil, sie sind in fröhlicher Stimmung und wir kommen ins Gespräch. Sie erzählen mir von geselligen Festtagen, die sie zusammen mit Familie und Freunden verbracht haben und dass sie jetzt wieder auf dem Weg nach Hause sind. Nur ich hatte zu tun die letzten Tage und komme nun erst zur Ruhe.
Von Station zu Station werden es weniger Menschen im Abteil, bis schlussendlich nur noch ich und ein älterer Herr übrigbleiben. Er liest seine Zeitung und ich bin wieder in meine Gedanken vertieft, als plötzlich der Zug langsamer wird und dann ganz stehen bleibt. Ich ziehe mir den Mantel an und packe meine Tasche, um auszusteigen und nachzusehen was los ist. Ich öffne die Tür und sehe vor mir nur dichtes Schneetreiben, keine Menschenseele weit und breit. Trotzdem steige ich ganz aus. Ich versuche mich zu orientieren. Ist hier ein Bahnhof? Dann ruckt der Zug hinter mir an und fährt los. „Halt, Halt! Ich muss noch mit!“ Doch der Lokomotivführer hört und sieht mich nicht in diesem Schneegestöber. Ich versuche noch aufzuspringen, aber der Zug fährt bereits zu schnell.Dann sehe ich nur noch die roten Lichter des Zugs verschwinden. Nun stehe ich hier, in einer verlassenen Gegend. Was soll ich tun?
Ich stapfe durch den Schnee, immer an den Gleisen entlang. Plötzlich sehe ich den alten Mann von vorhin wieder. Auch er ist ausgestiegen. Ich beschleunige meine Schritte, um ihn einzuholen. Schliesslich stehe ich neben ihm und er sieht mich an. Er ist dick eingepackt und hat seinen Hut tief ins Gesicht gezogen. „Hallo, sind Sie auch zu früh aus dem Zug gestiegen? Wissen Sie in welcher Gegend wir uns hier befinden?“ Der alte Mann antwortet mir nicht, er sieht mir nur tief in die Augen und läuft schliesslich weiter. Ich folge ihm, auch wenn ich nicht verstehe, wieso genau. Vielleicht, so meine leise Hoffnung, weiss er, wie wir zum nächsten Dorf oder sogar in die nächste Stadt gelangen. Er wirkt auf mich so zielstrebig. Ich bin froh nicht mehr alleine laufen zu müssen und erzähle ihm von meinen letzten Tagen.
Es sprudelt nur so aus mir heraus. „Wissen Sie, ich arbeite im Krankenhaus und musste über die Festtage arbeiten. Es gab viel zu tun und dann starb, einen Tag vor Heilig Abend, auch noch mein Vater. Ich weiss, er war bereits alt und nicht mehr ganz fit. Aber sein Tod kam sehr plötzlich. Viel zu unerwartet für mich.“ „Ich weiss“, sagt der alte Mann. Das verwirrt mich und ich schweige. Auch er bleibt ruhig und weicht plötzlich vom Weg ab. Er führt mich über ein Bahnübergang zu einem Parkplatz, auf dem ein Auto steht. „Ist das Ihres?“ Er nickt. Ohne ein Wort zu sagen, öffnet er mir die Tür zum Beifahrersitz und ich steige ein. Er setzt sich an das Steuer und wir fahren los. „Wohin fahren wir?“ Wiederum keine Reaktion. Ich respektiere sein Schweigen und sage auch nichts mehr.
Doch dann platzt es aus mir heraus. „Glauben Sie an Schicksal? Ich glaube seit heute, seit diesem Moment an Schicksale. Sie sind mein Retter.“ Dann nach einer langen Fahrt, stehe ich vor dem Haus meiner Schwester. Sie kommt aus der Tür heraus und schliesst mich in ihre Arme. „Wie bist du denn hierher gekommen? Wer ist die Person in diesem Auto? Dieser Mann sieht aus wie unser Vater.“ Erst jetzt, als meine Schwester dies erwähnt, erkenne ich die Gesichtszüge unseres Vaters. Der Himmel hat mir einen Engel geschickt, meinen Vater, und ich durfte ein paar wundervolle, wenn auch schweigsame Stunden mit ihm verbringen. Ich murmle leise Danke gegen den Himmel und gehe ins Haus hinein. Ich glaube, diesen Tag werde ich mein Leben lang nie mehr vergessen und meinen Enkelkindern noch erzählen.

Vera